- Literaturnobelpreis 1903: Bjørnstjerne Martinus Bjørnson
- Literaturnobelpreis 1903: Bjørnstjerne Martinus BjørnsonDer Norweger erhielt den Nobelpreis für »seine durch eine einmalige Frische der Eingebung und eine seltene Seelenreinheit gekennzeichnete Dichtung«.Bjørnstjerne Martinus Bjørnson, * Kvikne (Hedmark, Norwegen) 8. 12. 1832, ✝ Paris 26. 4. 1910; 1857-59 künstlerischer Leiter des Theaters in Bergen, 1860 Reisestipendium nach Rom, 1865-67 künstlerischer Leiter des Kristiania-Theaters (Oslo), 1873-75 Reisen nach Tirol, Florenz, Rom, 1880 Reise in die USA, 1893-96 Reisen durch Europa.Würdigung der preisgekrönten LeistungWar er »der größte Norweger, der je gelebt hat«, wie ihn früher die norwegische Literaturwissenschaft sah, oder war er »falsch wie ein Festredner«, wie der schwedische Schriftsteller August Strindberg formulierte? Nun, Bjørnson hat viel zur Herausbildung der norwegischen Identität beigetragen, vielen war er die Verkörperung des eigentlichen Norwegens. Seine einzigartige Position in der norwegischen Kultur- und Literaturgeschichte verdankt er seinem umfangreichen Werk und seinen mannigfaltigen Aktivitäten: Er war Dramatiker und Novellist, Romancier und Lyriker, Theaterdirektor und Journalist, der sich in etwa 3000 Artikeln international zu Wort meldete, wenn es galt, Missstände anzuprangern. Er war ein Volksredner, der für seine Ideen von sozialer Gerechtigkeit, Gleichstellung mit Schweden (mit dem Norwegen bis 1905 in Personalunion verbunden war) und Emanzipation der Geschlechter landauf, landab zog, er war ein eifriger Briefeschreiber; etwa 30 000 seiner Briefe sind erhalten.Ganz im Dienste des VaterlandsGanz im Zeichen des so genannten »nationalen Durchbruchs« der 1850er-Jahre begann Bjørnson seine literarische Karriere mit vaterländischen Schauspielen, die ihren Stoff aus dem norwegischen Mittelalter bezogen, wie »Zwischen den Schlachten« (1857), »König Sverre« (1861) oder »Sigurd Slembe« (1862). Ihr Vorzug lag darin, dass die Personen sich nicht mehr in einem künstlichen Saga-Idiom artikulierten, sondern sich einer gegenwartsnahen Sprache bedienten; die Ideologie, die transportiert wurde, betonte die Kontinuität der Mittelaltermenschen und der heutigen Bauerngesellschaft, das Verbindende war entscheidender als das Trennende. Diese Aufwertung des norwegischen Bauern vollzieht Bjørnson auch in seinen »Bauernerzählungen« (1857) — der vielleicht bekanntesten »Synnøve Solbakken« war auch in Deutschland ein geradezu sensationeller Erfolg beschieden. Bjørnson war in kurzer Zeit zu einem bekannten Schriftsteller avanciert. Sein Ansehen wurde noch gesteigert, als er 1863 ein Preislied auf sein Vaterland dichtete, das bald zur Nationalhymne wurde. In den Auseinandersetzungen Dänemarks mit Preußen und Österreich stand er ganz auf der Seite des nordischen Bruderlands, doch änderte er 1872 die Signale, als er von seiner früheren Position als überzeugter Anhänger des Skandinavismus zu einem Pangermanismus überging und Dänemark aufforderte, sich mit Deutschland zu versöhnen. Dies wurde von so manchem als Verrat an der nordischen Solidarität empfunden.Kritik an der GesellschaftDoch auch die Zeichen der literarischen Entwicklung hatten sich geändert: In seinen ab 1872 auch im Druck erschienenen Vorlesungen hatte der dänische Literaturkritiker Georg Brandes eine neue Literatur gefordert, die die gegenwärtigen Probleme der Gesellschaft zur Debatte stellen sollte; nur eine derartige Literatur sei lebendig. Bjørnson nahm die Herausforderung an und schuf 1874/75, noch vor seinem Landsmann Henrik Ibsen, das gesellschaftskritische Drama. In seinem Stück »Ein Bankrott« griff er die kapitalistischen Machenschaften an, freilich ohne ein Anhänger der Lehren von Karl Marx zu sein, denn er war eher ein Reformer als ein Revolutionär; in seinem Schauspiel »Der Redakteur« (1875) geißelte er die korrupte Presse. Diese Schauspiele machten Furore, nicht nur in Norwegen, auch auf den Bühnen Berlins feierten sie Triumphe und bahnten hier Ibsen den Weg für seine Stücke, denen aufgrund ihrer größeren dramaturgischen Qualität eine längere Lebenszeit beschert war. Lüge und Wahrheit, die diese Dramen thematisierten, wurden dann noch in »Der König« (1877) und »Das Neue System« (1879) aufgegriffen. Die neue Forderung nach Gegenwartsbezogenheit erfüllte Bjørnson auch in seinem Roman »Magnhild« (1877): Zwei Jahre vor Ibsens »Puppenheim« bricht hier die weibliche Hauptperson aus ihrer unglücklichen Ehe aus.Der politische DramatikerIn den kommenden Jahren beschäftigte Bjørnson sich hauptsächlich mit der Politik und engagierte sich nachdrücklich für die Gleichstellung seines Landes innerhalb der Personalunion mit Schweden. In Schrift und Wort unterstützte er die immer lauter werdende Forderung nach Einführung des Parlamentarismus, was 1884 auch geschah. Und wieder heizte er die Debatte an: 1883 erschien sein Schauspiel »Ein Handschuh«, das die so genannte »Sittlichkeitsdebatte« auslöste, den »großen Nordischen Krieg über die Sexualmoral«. Hier hatte er dieselbe Sexualmoral für Mann und Frau gefordert, und das war ein gewaltiger Tabubruch. Mit der Staatskirche setzte er sich in seinem Doppelschauspiel »Über die Kraft» (1883 und 1895) kritisch auseinander: Erlösung gibt es im Übernatürlichen weder auf politischem noch auf sozialem Gebiet.Seinen dichterischen Höhepunkt hatte Bjørnson erreicht. Es folgten noch einige Schauspiele und etwas Prosa. Doch als politisch engagierter Mensch war er noch lange nicht ermattet. Mit allem Nachdruck setzte er sich für die Freiheit der unterdrückten Völker Europas ein: für die dänische Bevölkerung in Nordschleswig, das 1864 Preußen zugeschlagen worden war, für die Ruthenen und die Ukrainer, für die Slowaken und die Finnen, für die Kroaten und die Polen, und es war ihm selbstverständlich, an der Seite von Émile Zola für den zu Unrecht verurteilten Alfred Dreyfus einzutreten.Der Verleihung des Nobelpreises 1903 war eine Diskussion vorausgegangen, ob man den Preis nicht zwischen Bjørnson und seinem inzwischen berühmteren Landsmann Ibsen teilen solle. Dazu kam es nicht. Es ist schon bemerkenswert, wie es gelang, Bjørnsons politisch-gesellschaftliches Engagement gänzlich zu unterdrücken. Der Geehrte hielt eine aufschlussreiche Dankesrede, in der er sich zu einer großen Verantwortung des Schriftstellers bekannte, die größer sei als die anderer Menschen. Der Dichter diene dem Fortschritt der Menschheit, die teils instinktiv, teils bewusst diesen Weg gehe. Im Niemandsland zwischen bewusstem Fortschreiten und unbewusstem Vorwärtsdrängen sei die »Imagination« des Dichters tätig, dem die Fähigkeit gegeben sei, die Pfade zu sehen, auf denen die Menschheit vorwärts schreite. Als Schriftsteller ist Bjørnson, abgesehen von der Nationalhymne, in den Hintergrund gerückt, als politischer Mensch kann er immer noch Vorbild sein. Vielleicht nicht zu Unrecht sagte Ibsen über ihn: »Sein Leben war seine beste Dichtung.«H. Uecker
Universal-Lexikon. 2012.